Grundlagentexte Beldeko Summary, Thema Kiezdeutsch Grundlagen für: HG_2013_T1, UG_2013_T1, UG_2014_T1 Text 1: Was ist Kiezdeutsch? Kiezdeutsch ist eine Jugendsprache des Deutschen. Das Besondere an Kiezdeutsch ist, dass sich diese Jugendsprache im Kontakt unterschiedlicher Sprachen (und Kulturen) entwickelt hat, und zwar in urbanen Wohngebieten, in denen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Herkunftssprachen zusammenleben. Ähnliche Jugendsprachen gibt es auch in anderen europäischen Ländern, etwa in den Niederlanden, in Dänemark und in Schweden. Kiezdeutsch ist also kein isoliertes deutsches Phänomen. All diesen Jugendsprachen ist gemeinsam, dass sie in gemischten Gruppen Jugendlicher einheimischer und nicht-einheimischer Herkunft gesprochen werden. Kiezdeutsch ist einerseits charakterisiert durch verschiedene grammatische Vereinfachungen, wie sie für Kontaktsprachen typisch sind, etwa im Bereich der Flexion und dem Gebrauch von Funktionswörtern wie Artikeln und Pronomen. Beispiele: „Also mein Schule ist schon längst fertig“ (Flexionsendung –e fällt weg) „Und da stand und hat mir seine Hand gegeben.“ (Pronomen „er“ fällt weg) Es bleibt jedoch nicht bei diesen Vereinfachungen. In Kiezdeutsch zeigt sich auch die Entstehung neuer sprachlicher Ausdrücke und eigener grammatischer Muster. Hier liegt das kreative und innovative Potenzial von Kiezdeutsch. Ein Beispiel für grammatische Neuerungen ist das Vorfeld: Während im Standarddeutschen im sogenannten „Vorfeld“, also in der Position am Satzanfang vor dem finiten Verb, in Aussagesätzen immer genau ein Satzglied steht, ist in Kiezdeutsch die Wortstellung freier. Hier finden wir auch zwei Elemente im Vorfeld oder aber keines. Beispiele: Zwei Elemente im Vorfeld: „Morgen ich geh Kino.“ „So die ersten zwei Wochen wir haben uns mit denen verstanden.“ Verb-erst-Sätze mit Modalverben an erster Stelle und klitisiertem Pronomen: „Musstu Doppelstunde fahren“ (musstu = „musst du“; Vorschlag an den Hörer, in der Fahrschule eine Doppelstunde zu fahren) „Lassma Moritzplatz aussteigen“ (lassma = „lass (uns) mal“; Vorschlag, gemeinsam am Moritzplatz aus dem Bus zu steigen) Neben grammatischen Neuerungen benutzt Kiezdeutsch auch eine Reihe neuer Fremdwörter, die das Standarddeutsche nicht hat. Dies sind oft Wörter aus dem Türkischen und dem Arabischen. Beispiele: „Ey, rockst du, lan, Alter.“ (lan = türkisch „Typ / Kerl“) „Und da stand und hat mir seine Hand gegeben. Wallah“ (wallah = arabisch, „bei Gott“) Diese Neuzugänge werden als neue Fremdwörter in Kiezdeutsch integriert wie andere Fremdwörter im Deutschen. Ihre Aussprache wird eingedeutscht und ihre Bedeutung ändert sich. So wird lan z.B. so ähnlich gebraucht, wie wir das von Alter in der Jugendsprache kennen, und wallah so ähnlich wie echt. Man wird also Kiezdeutsch am ehesten gerecht, wenn man es als neuen Dialekt ansieht, als einen Dialekt des Deutschen, der – wie andere Dialekte auch – die grammatischen Möglichkeiten unserer Sprache weiterentwickelt: ein Sprachgebrauch, der Teil des Deutschen ist, aber vom Standarddeutschen abweicht und eigene, charakteristische Merkmale im Bereich von Lautung, Grammatik und Wortschatz aufweist. (426 Wörter) Quelle: www.kiezdeutsch.de (zusammengefügt und leicht bearbeitet) Text 2: Plädoyer einer Professorin: Kiezdeutsch rockt, ischwör! Sprachbewahrer kämpfen verbissen gegen Kiezdeutsch. Der Schulhof-Slang verhunzt unsere Sprache, meinen sie. Kiezdeutsch gilt oft als falsches, reduziertes Deutsch ohne Grammatik. Alles Quatsch, sagt die Sprachforscherin Heike Wiese. Denn Kiezdeutsch sei genauso ein Dialekt wie Bayerisch und Schwäbisch, der fest im System der deutschen Grammatik verankert ist. Die folgenden Ausführungen basieren auf Auszügen aus Wieses Buch „Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht“ (2012). Wie ein Dialekt bewertet wird, hängt immer auch mit der sozioökonomischen Stellung derjenigen zusammen, die ihn sprechen. Wenn jemand einen niedrigeren sozialen Status hat, dann wird seine Sprechweise eher negativ bewertet. Kiezdeutsch wird in multiethnischen Wohngebieten gesprochen, und in Deutschland sind diese oft sozial besonders benachteiligt, das Einkommen ist niedrig, die Arbeitslosenquote hoch. Dementsprechend wird Kiezdeutsch als Sprechweise sozial Schwächerer wahrgenommen - und damit schnell als "schlechtes Deutsch" abgewertet. Kiezdeutsch hat aber noch mit einem zweiten Handicap zu kämpfen: Es wird typischerweise unter Jugendlichen gesprochen - das war noch nie günstig für die Bewertung einer Sprechweise. Denn die Kritik an Jugendsprache ist so alt wie die Kritik an Jugendkulturen insgesamt. Niemand spricht nur "ein Deutsch". Wir sprechen im Dienstgespräch mit einem Vorgesetzten anders als beim Telefonat mit der Schwester. Wenn ich mit meiner Schwester so sprechen würde wie bei einem Vortrag, wäre das kein Zeichen dafür, dass ich gut Deutsch spreche, sondern ein Hinweis auf mangelnde Sprachkompetenz: Ich könnte offensichtlich nicht situationsangemessen aus meinem Sprachrepertoire auswählen. Auch Kiezdeutsch ist für seine Sprecher immer ein Teil eines größeren sprachlichen Repertoires. Für die gesellschaftliche Teilhabe Jugendlicher ist es wichtig, dass zu diesem Repertoire auch das Standarddeutsche gehört. Das ist aber unabhängig davon, ob sie Kiezdeutsch sprechen. Alle Kinder gleichermaßen beim Erwerb des Schriftdeutschen in der Schule zu unterstützen, ist eine wichtige Aufgabe unseres Bildungssystems. Dem wird man aber nicht dadurch gerecht, dass man dialektale Kompetenzen als "schlechtes Deutsch" missachtet, und dies gilt für herkömmliche Dialekte ebenso wie für Kiezdeutsch. Kiezdeutsch wird oft als Bedrohung angesehen, das einen massiven Einfluss des Türkischen anzeige oder gar zum "Sprachverfall" führen könne. Kiezdeutsch ist aber keine deutsch-türkische Mischsprache: Die grammatischen Neuerungen in Kiezdeutsch erklären sich aus dem System der deutschen Grammatik heraus, Kiezdeutsch ist typisch deutsch! Entsprechend werden neue Fremdwörter aus dem Türkischen in Kiezdeutsch auch sofort eingedeutscht, sie werden deutsch ausgesprochen, deutsch geschrieben und in die deutsche Grammatik integriert. Jede Sprache wandelt sich ständig. Eine Sprache hört erst auf, sich zu verändern, wenn sie nicht mehr gesprochen wird. Bedroht sind Sprachen, die nur noch sehr wenige Sprecher und Sprecherinnen haben oder von dominanteren Landessprachen verdrängt werden, etwa das Niedersächsische Platt. Die Realität ist also genau umgekehrt: Das Standarddeutsche wird nicht durch Dialekte bedroht, sondern es bedroht im Gegenteil die Dialekte. Kiezdeutsch ist ein deutscher Dialekt, der das Deutsche bereichert, indem es dem Spektrum der deutschen Varietäten ein neues, vitales Element hinzufügt. (464 Wörter) Quelle: Artikel in SPIEGEL online vom 29. März 2012 (gekürzt und leicht verändert)